Vor 150 Jahren: Jahrtausendflut in Lübeck

12.11.2022, 17.26 Uhr: "Das ist kein Jahrestag, bei dem es irgendetwas zu feiern gibt", begann Lübecks Innen- und Umweltsenator Ludger Hinsen seine einführenden Worte zur Veranstaltung anlässlich des 150. Jahrestages der Jahrtausendflut von 1872. "Es war ein höchst tragisches Ereignis", fuhr er fort, das die Menschen an den Ostseeküsten unvorbereitet traf und bis dahin nicht gekannte Überflutungsverwüstungen angerichtet habe.

Bis heute ist dieses markante Ereignis Maßstab für Planungen und Überlegungen im Bereich Küstenschutz, denn man weiß jetzt, dass es im Ostseebereich schlimmstenfalls so eintreten kann. Die Flut zerstörte seinerzeit nahezu 3000 Häuser im Küstenbereich und forderte etwa 270 Todesopfer an den Küsten von Deutschland, Dänemark und Schweden. Zahlreiche Flutmarkierungen, zum Beispiel an der Travemünder Promenade, erinnern immer noch an den damaligen Wasserstand in unserer Region. Der Zollstock an der Säule symbolisiert einen zwei Meter großen Menschen. Der hätte beim Spaziergang auf der Promenade immer noch 1,30 Meter Wasser über sich. Daran mag man die damaligen Auswirkungen auf Travemünde erkennen. "Kann das wieder passieren?", war daher eine der naheliegenden Fragen, die auf der Veranstaltung der Hansestadt Lübeck zum Jahrestag der Flut immer wieder gestellt wurde.



Dr. Jakobus Hofstede vom Ministerium für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur (MEKUN) lieferte dazu zunächst einmal eine historische Einordnung. Im Referat Küstenschutz, Hochwasser und Häfen befasst er sich dort mit Risiken im Küstenbereich. Als gebürtiger Niederländer ist er von frühester Jugend mit dieser Problematik vertraut und berät jetzt im Ministerium in allen Fragen des Küstenschutzes. Anhand der Quellen, die er im Verlauf seines Vortrages vorstellte wurde schnell klar, dass die Bezeichnung "Jahrtausendflut" absolut gerechtfertigt und keine Übertreibung ist.

Seine Grafik sämtlicher Hochwasserstände seit 1825 am Pegel Travemünde zeigt, dass extreme Hochwasserereignisse schon einmal in den Bereich von 1,50 bis 2 Meter vordrangen, die Flut von 1872 mit über 3,30 Meter aber bisher einzigartig in der Historie dastand.

Hier hören Sie ein Interview mit Dr. Jakobus Hofstede:

Es war eine Kombination von außergewöhnlichen Umständen, die zu diesen dramatischen Überschwemmungen an der Ostseeküste führte. Tagelange Weststürme hatten die Wassermassen hoch in den Finnischen und weiter nördlich in den Bottnischen Meerbusen hineingedrückt, so dass sich dort, im Osten der Ostsee, ein Flutberg ungeheuren Ausmaßes bilden konnte. Dieses Phänomen kennen wir heute noch als sogenannten 'Badewannen-Effekt', wenn nach einem Weststurm die Fluten dort steigen und nach etwa 2 bis 4 Tagen nach Lübeck zurückschwappen. Die Mengen damals waren allerdings wegen der langen Einwirkung des starken Westwindes unvergleichlich höher und dazu kam ein weiterer, sehr ungewöhnlicher Effekt. Gleich nach Abflauen des Weststurms setze ein sehr starker Oststurm ein, der den ohnehin gewaltigen Flutberg mit Macht wieder zu uns in die westliche Ostsee drückte. Das kann man sich nicht als Tsunami vorstellen, der eine spontane Riesenwelle verursacht, sondern eher als ein sehr schnell und unaufhaltsam ansteigender Wasserspiegel. Viele konnten sich daher retten, die ungewöhnlich hohe Überflutung richtete aber gewaltige Zerstörungen an der gesamten Ostseeküste an.

Es war also schon außergewöhnlich, was sich am 13. November 1872 an den Küsten abspielte, aber die Küstenschutzexperten haben dieses Ereignis auch heute noch bei ihren Überlegungen durchaus im Blick. Aufgrund des Klimawandels steigen die Meeresspiegel und damit werden auch die Sturmfluten neue Hochstände erreichen. Auf Simulationskarten im Internet kann man sich ansehen, wie beispielsweise die Hansestadt Lübeck von einem Meeresspiegelanstieg in vordefinierter Höhe betroffen sein würde.



Darüber informierten Elke Kruse und Barbara Schäfers von der Lübecker Klimaleitstelle. Dort befasst man sich seit langem mit Ereignissen wie Meeresspiegelanstieg oder auch mit Starkregenereignissen, die dann wiederum zu Überschwemmungsereignissen führen. Die dazu bereitgehaltenen Karten sind so genau, dass man die Auswirkungen auf sein eigenes Grundstück daran ablesen und sich auf dieser Grundlage rechtzeitig um Abwehrmaßnahmen bemühen kann. Dazu ist man sogar verpflichtet, hat Senator Hinsen, der selbst in einem hochwassergefährdeten Gebiet wohnt, noch einmal ausdrücklich betont. Geeignete Maßnahmen müssen vorbereitet und eingeleitet werden. Die Klimaleitstelle der Hansestadt ist in diesbezüglichen Fragen immer ansprechbar, berät und zeigt Lösungswege auf.

Hier hören Sie ein Interview mit Senator Ludger Hinsen:

Jana Koerth und Anna Lena Bercht vom Geographischen Institut der Kieler Universität arbeiten daran, das Wissen über Sturmfluten und deren Gefahren besser an die Bevölkerung heranzutragen, um auf diese Weise bei den Küstenbewohnern ein erhöhtes Gefahrenbewusstsein zu schaffen.

In diesem Zusammenhang haben sie eine Ausstellung konzipiert, die am Schuppen 6 entlang der Kaikante angesehen werden kann. Wahrnehmungen von Flutereignissen aus der Bevölkerung sind in die Ausstellung eingeflossen. Diese wurden im Vorfeld der Aktivitäten zum 150. Jahrestag von den Wissenschaftlerinnen erhoben.

Wer am Tag selbst dem Jahrtausendereignis gedenken möchte, kann das im Rahmen einer Veranstaltung tun, die vom Lübecker Stadtführer e.V. und der Klimaleitstelle angeboten wird. Dabei geht es in die gefährdeten Gebiete der Altstadt. Es werden nicht nur die ersten erhöhten Siedlungsgebiete gezeigt, sondern auch die bisher getroffenen Sicherungsmaßnahmen der Altstadthäuser erläutert. Die zweistündige Führung beginnt am Sonntag, 13. November 2022, um 11 Uhr am Schuppen 6, An der Untertrave 47a. Die Veranstaltung ist kostenfrei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Vor 150 Jahren erreichte die Flut einen Pegel von 3,30 Meter über dem mittleren Wasserstand. Fotos, O-Töne: Harald Denckmann

Hier hören Sie den Originalton:  



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