„Der Freischütz“ in Eutin: Romantik war gestern

Ostholstein: Archiv - 20.07.2024, 18.41 Uhr: 1951 zum 125. Geburtstag von Carl Maria von Weber begonnen, zeigen die Eutiner Festspiele 2024 sich in neuem Gewand mit großer Tribüne, darunter eine See-Promenade und diverse Annehmlichkeiten wie Gastronomie und sanitäre Anlagen. Zur Wiedereröffnung gibt es nach dem Musical „Jesus Christ Superstar“, selbstverständlich, Webers große Oper „Der Freischütz“.

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Wer sich dafür den Regisseur Anthony Pilavachi holt, weiß, was ihn erwartet: Keine volkstümelnde Romantik von gestern, auch kein hohles und übergagtes Spektakel wie jetzt parallel in Bregenz – sondern die Sinnsuche hinter der Handlung und in der Musik. Bestes Beispiel dafür ist sein aufsehenerregender und Echo-Klassik-preisgekrönter Lübecker „Ring des Nibelungen“ mit GMD Roman Brogli-Sacher (2007-2010).

Es ist viel los auf dem Eutiner „Grünen Hügel“, der diese einmalige, einprägsame Baumkulisse mit mehreren Terrassen und Kunstrasen hat. Im „Freischütz“, diesem Spiel um Gut und Böse, hält Pilavachi alle in Bewegung, zumal den großen Chor: alle weißgeschminkt, in dunklen Anzügen, mit dunklen Hüten, roten Socken und Handschuhen: Sinnbild der anonymen Masse, die immer von den Mächtigen gelenkt wird. Die allerdings – ob Oberförster Kuno (Sebastian Campione), Fürst Ottokar (Wolfgang Rauch) oder Eremit (Lukasz Konieczny) – karikiert Pilavachi, doch keineswegs sarkastisch.

Diese Masse Mensch – Bedrohung für die Mächtigen und Drohkulisse für das Individuum in der Wolfsschlucht beim mitternächtlichen Freikugelgießen (wie immer erst richtig wirkend nach Einbruch der Dunkelheit) – führt Pilavachi also souverän und zeigt. In diesem Dickicht ist der Einzelne oft Freiwild, nicht nur für die Oberen, sondern auch durch seine eigene Sehnsucht – hier erkennbar an den drei Hauptfiguren: Kaspar kommt gebrochen aus dem Krieg und will sich an der Gesellschaft rächen, indem er Max manipuliert – was Thomas Weinhappel mit Temperament und weniger mit Schwärze als mit der Flexibilität seines Baritons zeigt. Neben ihm berühren drei vielversprechende junge Stimmen: Ann-Kathrin Niemczyk (Agathe) lässt ihren weichen Sopran besonders schön in der Arie „Wie nahte mir der Schlummer“ aufblühen – Océane Paredes (Ännchen) ist quicklebendig und gewinnt vor allem in der Traumerzählung immer mehr an Flexibilität – vor allem ist Marius Pallesen (als zwischen Hoffen und Bangen leidender Max) mit seinem bereits reifen lyrischen Tenor eine Idealbesetzung und schießt, in zwiefacher Hinsicht, hier absolut den Vogel ab.

Kilian (Laurence Kalaidjian) sowie die Brautjungfern (Natalie Helgert, Maki Moriyama, Nele Schumacher, Sakurako Tokuda, Almudena Jal-Ladi) sind vokal und figural proper. Eine ganz große Chorleistung ist Sebastian Borleis zu danken, denn „Der Freischütz“ ist ohne seine berühmte Weisen nicht zu denken.

Es dirigiert erstmals Leslie Suganandarajah. Der Salzburger Musikdirektor, der sein Studium an der Musikhochschule Lübeck begann, leitet das Orchester (die erweiterte Kammerphilharmonie Lübeck) mit Umsicht und neigt zu recht ruhigen Tempi – oder entsteht dieser Eindruck durch die großen Lautsprecherboxen, aus denen auch der Wolfsschluchtdonner dröhnt? Weichen Streichern (mit feinem Viola-Solo) standen bei der Premiere auch mal widerspenstige Hörner gegenüber.

Eine Naturbühne hat eigene Gesetze. Sie macht es dem Regisseur wie dem Publikum nicht leicht. So auch hier, zumal Pilavachi (mit eigenem Text) die Randfigur des Geistes Samiel zum Kommentator, vielmehr zur Kommentatorin erhebt: Nina Maria Zorn „geistert“ in schwarzem Lederoutfit, teils als Mephisto, teils als Mahner über die Szene – die von Jörn Brombacher (Bühnenbild) etwas klobig umstellt und von Cordula Stummeyer (Kostüme) präzise erfasst ist: hier die Menge, dort das Individuum. Zu aller Dramatik fügt Pilavachi sein Quäntchen Humor – etwa wie in der Agathe-Szene das abgestürzte Försterbild von geheimen Kräften wieder an seinen Platz gezogen wird und auch einige Drastik im Massenfinale...

Diesem „Freischütz“ ohne Nostalgie-Folklore applaudierten, nach einigem Zögern, die Premierenbesucher lange. Manche hatten wohl auch schon das sehr gut informierende Programmbuch gelesen.

Das ganze Dorf verspottet Max (Marius Pallesen), nachdem Bauer Kilian (Laurence Kalaidjian) das Wettschießen gewonnen hat. Fotos: Daniel Lagerpusch

Das ganze Dorf verspottet Max (Marius Pallesen), nachdem Bauer Kilian (Laurence Kalaidjian) das Wettschießen gewonnen hat. Fotos: Daniel Lagerpusch


Text-Nummer: 167261   Autor: Güz.   vom 20.07.2024 um 18.41 Uhr

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