SHMF: Finale und Lübeck-Bilanz

Lübeck: Das Schleswig-Holstein Musik Festival 2024 – die 39. Ausgabe seit dem Beginn 1986 – geht am 1. September zu Ende. Das erneute Städte-Motto lautete diesmal „Venedig“. Zum Finale erklingt Mozarts Requiem gleich zweimal: Die MuK war auch im Sonnabend-Konzert ausverkauft. Mit 95 Prozent Platzausnutzung war das SHMF im Lande diesmal besonders erfolgreich.

Abschluss also mit der NDR-Radiophilharmonie, dem in Hannover beheimateten Landesfunkhaus-Orchester Niedersachsen, unter dem neuen Chef Stanislav Kochanovsky – und mit einer Programm-Änderung: Um noch einmal einen Venedig-Bezug herzustellen, gab es eingangs „Tre pezzi per orchestra“, das Barock-Meister Girolamo Frescobaldi in der 1952er-Version von Bruno Maderna (beides Söhne der Lagunenstadt) sowie Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 132 statt dessen angekündigter „Haffner“-Sinfonie. Die „Pezzi“-Minibesetzung leitete Kochanovsky unaufwendig, der frühe Mozart klang am Sonnabend oberflächlich: Der erste Satz „Allegro con brio“ (also „mit Feuer“), kam „assai“ (also lediglich gehetzt schnell); das Andante seufzte sich matt durch Bläser und Streicher; im zu derben Minuetto zeigten sich Dissonanzen, das finale Allegretto war überhastet.

Doch nach der Pause waren Kochanovsky und die Seinen wie verwandelt: Das Requiem erhielt mehr als eine warme, flexible Grundlage. Der Bogen in einem der schönsten musikalischen Bekenntnisse spannte sich vom fast mystischen Introitus über das ausdrucksstarke „Rex tremendae“ und das flehentliche Offertorium bis zum leuchtenden „Communio“. Dirigent und Orchester verstanden sich bestens, das internationale Solistenquartett fügte sich ein. Neben Elsa Benoit (Sopran), Pietro Idaíni (Tenor) und Alexander Grassauer (Bass) gefiel besonders der warme Mezzosopran von Catriona Morison. Trumpf der Aufführung ist jedoch der große Schleswig-Holstein Festivalchor. Wieder einmal hat Nikolas Fink hundert Stimmen zu einer Einheit geformt, die ebenso kraftvoll wie balsamisch (Rex tremendae) klingen, ebenso ein bewegendes Piano wie außerordentliche Dynamik (Lacrimosa) entwickeln kann. Kein Wunder, dass der lange Beifall am Sonnabend ebenso herzlich war wie diese Aufführung.

Festival geht in die Breite

Vor vier Jahrzehnten war SHMF-Gründer Justus Frantz angetreten, den Menschen Klassik nahezubringen – im ganzen Land, an vielerlei Orten. Seine Intendanten-Nachfolger haben stets am Konzept gearbeitet. Im 21. Jahrhundert ist allerdings das Bildungsbürgertum nahezu ausgestorben und immer weniger Menschen mögen sich „klassische Musik“ erarbeiten: Kultur bereitet ja einige Mühe (für beide Seiten). Also wollen SHMF-Chef Dr. Christian Kuhnt und sein „Programmierer“ Frank Siebert nun dem „Zeitgeist“ entsprechen. Zu konstatieren: ist: Das SHMF geht in die Breite und tendiert auf der akustischen Skala weiter in Richtung „Unterhaltung“.

Sein diesjähriges Motto „Venedig“ – als einem Urlaubssehnsuchtsort mit Canale Grande, Gondeln und Markusplatz – ist denn auch trefflich gewählt. Musikalisch waren allerdings viele Koordinaten zusammenzuführen unter dem Fixbegriff „Barock“. Bewundernswert, was alles Siebert musikhistorisch ausgegraben und in ungeahnter Variationsbreite um Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ collagiert hat. In Lübeck erklang dieser Dauerhit in der Kulturwerft Gollan, dem Zentrum eines „Werftsommers“ mit einer steigenden Zahl von Live-Acts. Quantitativ hatte Lübeck die Nase vorn mit fast 30 Veranstaltungen. So manche davon waren kleinformatig in eigenartigen Locations wie etwa die vierteilige „Inside Venice“, wo sehr gute junge Fanny Mendelssohn Artists jede Menge Musikhäppchen verabreichten und Besucher bei einem Glas Wein mehr oder weniger chillen konnten.

In der Hansestadt scheint sich das SHMF mehr dem Event zuzuneigen und den „klassischen“ Fest(ival)charakter abzulegen. So war das Konzert der Bernstein-Award-Verleihung an die Cellistin Anastasia Kobekina in der Gollan-Industriehalle banal und ohne das Kultur-Flair, für das die MuK steht. In der MuK, vor vier Jahrzehnten auch als Zentrum fürs SHMF erbaut, spielten diesmal nur drei Orchester, davon NDR-Elbphilharmonie und NDR-Radiophilharmonie hier ständig in der Saison auftreten. Warum also wie jeden Sommer diese beiden plus Festspiel-Orchester – aber keinen der sechs Klangkörper, die in Neumünster, Büdelsdorf, Flensburg und vor allem in Hamburg gastierten? Ebenso Fehlanzeige etwa bei Pianisten wie Lang Lang, Grigory Sokolov, Jan Liesicki oder Sängern wie Rolando Villazón.

Die SHMF-Intendanz hat ihren Sitz in Lübeck. Sie sollte diese Stadt nicht bevorzugen, aber auch nicht benachteiligen. Die „klassischen“ Musikfreunde hier wissen: Die Zeiten, als in der MuK die Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle auftraten, sind vorbei – auch bei intensivster Sponsorenhilfe ist so ein Gastspiel kaum mehr zu realisieren. Aber sie möchten nicht abgespeist werden... 2024 bleibt dennoch ein Abend in Erinnerung: Der Höhepunkt dieses Venedig-Sommers im Lande war die „Marienvesper“ von Claudio Monteverdi, interpretiert vom großartigen französischen Ensemble „La Tempête“ im Lübecker Dom.

Das SHMF-Ziel im nächsten Jahr ist Istanbul.

Klassik populär machen: Das SHMF 2024 endet an diesem Wochenende. Foto: Oliver Borchert

Klassik populär machen: Das SHMF 2024 endet an diesem Wochenende. Foto: Oliver Borchert


Text-Nummer: 167976   Autor: Güz.   vom 01.09.2024 um 12.00 Uhr

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